von Ran Acyl
Hanami Tokigawa konnte auch in dieser Nacht nicht schlafen. Der Wind drückte sein finsteres Gesicht gegen die Fensterscheiben. Das Glas war undicht und die kalte Luft, welche ihren Weg ins Zimmer fand, ließ Hanami erschaudern. Sie warf sich den roten Nachtmantel um die Schultern und tappte aus dem Bett. Wenn sie nicht schlafen konnte, dann brachte es auch nichts im Bett zu bleiben. Unruhig wanderte sie im Zimmer herum und fixierte die Tür mit ihrem kalten Blick. Doch so sehr sie es sich auch wünschte, öffnete sie sich nicht. Niemand kam herein gehechtet mit reuevolle Blick und einem Strauß Rosen in der Hand. Sowie in den letzten Nächten auch nicht.
„Fahr doch zur Hölle“, schrie sie in die Stille hinein und warf ihr Tagebuch, welches sie sich von der Kommode schnappte, gegen die Wand. Sie wollte nicht jede Nacht wach bleiben, in der Hoffnung, dass er wiederkäme, nur um enttäuscht ohne Schlaf in den neuen Tag zu starten. Sie vermisste die Tage, in denen sie voller Energie und Tatendrang gewesen war. Sie war den ganzen Tag auf Trab gewesen, hatte Freunde getroffen, für die Universität gepaukt und ihr Bestes bei ihrem Job gegeben. Und jetzt ließ sie Seminare ausfallen, meldete sich nur noch selten bei ihren Freunden und war unkonzentriert bei der Arbeit.
Frustriert hob sie ihr Buch wieder auf und legte es auf den Nachttisch, um danach das Zimmer zu verlassen. Der schmale Flur auf der anderen Seite der Tür wirkte wie in einem Horrorfilm, gruselig und düster. Sollte ein Geist sie doch holen; ihr wäre es sogar recht. Leise, um ihre Eltern nicht zu wecken, schlich sie die knarrenden Dielen entlang, bis sie bei der kleinen Abstellkammer ankam und sich in diese quetschte. Als Kind hatte sie auch auf Zehenspitzen nie die Decke erreichen können, doch nun musste sie ihren Kopf einziehen, um überhaupt rein zu passen. Sie setzte sich auf den alten Lederkoffer ihres Vaters, den dieser seit der letzten Familienreise von vor sieben Jahren nicht mehr benutzt hatte, und schloss die kleine Tür hinter sich. Sie tastete nach dem Schalter. Die Kammer begann im warmen Licht der winzigen Glühlampe zu flackern und offenbarte die alten, vergessenen Gegenstände, die hier ihr Zuhause gefunden hatten. Hanami nahm die ramponierte Videokamera in die Hände, deren Verschluss schon lange verloren gegangen war. Es war ihr bedeutendster Schatz gewesen, welchen sie überall hin mitgenommen hatte. In der durchsichtigen Dose neben ihr hatte sie Jahre lang all die SD-Karten, gefüllt mit ihren Erinnerungen gesammelt. Doch seit knapp zwei Jahren nahm sie nichts mehr mit der Kamera auf. Sie traute sich nicht einmal die aktuelle Karte rauszunehmen, aus Angst deren Inhalt zu verlieren. Zitternd schaltete sie das kleine Gerät an und die Batterie leuchtete warnend rot auf. Es existierte kein Aufladekabel für die Kamera mehr, da es ein sehr seltenes Exemplar war, welches nicht mehr hergestellt wurde. Monate lang hatte sie damit verbracht nach einem Ersatz zu suchen, doch weder im Elektronikladen noch online bei Privatleuten hatte sie Glück gehabt.
Es befand sich nur ein Video auf der Karte und Hanami betrachtete das Standbild, ohne sich zu rühren. Als könnte sie ihn wirklich berühren, strich sie zärtlich über die starre Oberfläche des Bildschirms.
„Hallo“, flüsterte sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Der Koffer knarzte unter ihrem Gewicht, als sie sich vorbeugte, um das Bild besser zu erkennen. Dann drückte sie auf Play.
Er saß auf einem Stuhl mitten in einem kahlen Raum im Dachgeschoss. Durch ein weites Fenster strahlte reinstes Sonnenlicht in den länglichen Raum und definierte jedes kleine Detail seiner Figur. Er stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und hatte den Oberkörper nach vorne gesenkt, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Doch sie brauchte es nicht zu sehen, um ihn in Erinnerung rufen zu können. Sein Gesicht hatte sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt.
„Ich habe heute die Nachricht erhalten. Wir werden eingezogen“, sagte er langsam, während er in seine Handflächen starrte.
Sofort stiegen Hanami erneut die Tränen in die Augen. Sie hatte seine Stimme vermisst. Sie war heiser und klang ganz ausgetrocknet. So viel wie er trainierte und so wenig wie er trank, war es kein Wunder, dass man es an seiner Stimme hören konnte.
„Toji, Kaga, Yuuto und die anderen warten unten schon auf mich, aber ich wollte dir noch eine Nachricht hinterlassen. Das ist das Mindeste, was du verdienst.“ Hanami wischte sich die laufenden Tränen mit ihrem Handrücken weg und ein Schluchzer entwich ihr. Ryuji richtete sich auf und blicktes sie direkt durch die Kamera an.
„Ich weiß nicht, ob ich wieder zurückkehren werde. Und ich bitte dich hiermit auch nicht, auf mich zu warten. Ich möchte, dass du glücklich wirst. Ich möchte, dass du mich loslässt. Denn wenn ich mit dem Gedanken gehe, dass du an uns festhältst, dann werde ich scheitern. Deswegen, Hanami, vergiss mich.“ Sie drückte auf Pause, denn sie konnte durch den Schleier über ihren Augen nichts mehr erkennen und sie wagte es nicht auch nur eine Sekunde von der Aufnahme zu verpassen, auch wenn sie diese schon in und auswendig kannte.
„Es tut mir leid, Ryuji… Ich konnte dich nicht vergessen“, schluchzte Hanami laut auf.
„Ich liebe dich, das habe ich dir viel zu selten gesagt. Ich dachte, wir hätten die Ewigkeit miteinander. Mir war nie in den Sinn gekommen, dass ich es dir vielleicht nie mehr ins Gesicht sagen können würde.“ Ryujis Stimme wurde brüchig, als Hanami ihn weitersprechen lies. Er lächelte und wischte sich über die Augen.
„Erinnerst du dich an unseren Jahrestag? Ich hatte ihn vergessen und mir einen gemütlichen Tag am Fluss gemacht. Das Wetter war unglaublich schön gewesen. Kaum eine Wolke hatte sich blicken lassen. Nur ein weites blaues Meer, eingetaucht in der heißen Sommersonne war zu sehen. Es tat unglaublich gut in dem weichen Gras zu liegen und mich sonnen zu lassen. Wie viele Stunden lag ich dort? Vier? Vielleicht auch länger, doch es hatte sich wie der Himmel angefühlt. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen; als ich aufgewacht bin, sah ich einen wahrhaftigen Engel über mir stehen. Du warst wütend, dass ich unseren Tag vergessen hatte, doch du hattest mich nicht geweckt, als du mich dort schlafen gesehen hast.“
Hanami hätte den Tag schon lange vergessen, wenn er sie nicht immer wieder daran erinnern würde. Sie hatte nicht gewusst, dass der Tag für ihn so besonders gewesen war.
„Was ich damit sagen will: Egal wie schön angenehm die Sonne war oder das Faulenzen, das Schönste an dem Tag war, als ich dein Gesicht als Erstes beim Aufwachen erblickte. In dem Moment wusste ich, dass ich mein Leben mit dir verbringen wollte.“ Ryuji hielt nun den Ring, welchen er in seinen Händen gehalten hatte, hoch in die Kamera und es versetzte Hanami immer wieder einen Stich, ihn zu sehen.
„Ich hatte eigentlich vorgehabt, um deine Hand anzuhalten, sobald ich meinen Dienst hier absolviert hätte. Aber es scheint wohl nicht bis dahin kommen zu wollen.“ Hanami fasste sich unter ihr Nachthemd nach der schmalen Silberkette, an dem sein Ring sanft herum baumelte.
„Ich sage dir es nicht, um dich an mich zu binden. Im Gegenteil, es soll dich von mir befreien. Mit meinem Geständnis möchte ich abschließen, sonst würde ich bereuen, es dir nie erzählt zu haben. Ich werde dich auch bis zum Ende lieben, aber ich möchte, dass du es nicht tust. Finde jemand anderen. Vielleicht jemand, der nicht in den Krieg ziehen muss“, lachte Ryuji spielerisch, doch seine feuchten Augen verrieten ihn.
„Du Idiot.“ Hanami musste kurz lächeln.
„Ich schicke den Ring mitsamt deiner Kamera per Post. Der Ring gehört nun eh dir. Danke, dass ich mir deine Kamera ausleihen durfte. Bitte, werde glücklich.“ Ryuji stand vom Stuhl auf, um die Aufnahme zu stoppen. Hanami selbst schaltete schnell die Kamera aus und das warnende rote Licht erlosch. Schluchzer erschütterten sie erneut und sie presste die Arme gegen das Gesicht, um ihre Eltern nicht zu wecken.
„Ich konnte es nicht, Ryuji. Es tut mir leid, also bitte, komm zurück.“ Doch niemand hörte ihr Flehen, niemand hörte ihren Schmerz. Sie war allein im Abstellschrank zwischen all den Erinnerungen verloren gegangen.
Hanamis Vater legte ihr schweigend die Zeitung auf den Teller, als sie mit blutunterlaufenen Augen in die Küche kam.
„Morgen“, nuschelte sie leise und setzte sich benommen an den Tisch. Als sie die Schlagzeile der Zeitung sah, wich sofort all die Müdigkeit aus ihren Gliedern. Schnell riss sie das Altpapier zu sich und klebte förmlich an der Druckerschwärze:
»Schwere Kämpfe haben ein Ende
Der zweijährige Krieg mit China fand gestern ein Ende. Politiker fanden eine Einigung zum Konflikt der Zugehörigkeitsfrage und beschlossen Waffenstillstand.
Doch trotz des friedlichen Zusammenfindens gab es tausende Verluste unter den Soldaten beider Seiten. Zusätzlich zu den über zweitausend bestätigten Todesfällen, sind noch weitere Hunderte an Vermisste zu finden.
Die Würdigung der Gefallenen findet übermorgen im Rahmen eines öffentlichen Kongresses vor dem Rathaus statt. «
„Der Krieg ist vorüber?“, fragte Hanami und sah ihre Eltern an, welche sie nickend anlächelten.
„Ryuji kommt wieder“, sagte ihr Mutter und umarmte Hanami fest, doch Hanami blieb regungslos.
„Es sind tausende von Toten, wie kann ich hoffen, dass es Ryuji nicht ebenso gefallen ist?“ Auch ihr Vater legte seinen Arm um sie und drückte sie fest an sich.
„Wir glauben fest daran, dass es ihm gut geht. Lass uns gemeinsam zum Kongress gehen. Aber Hanami, bitte, sei nicht mehr traurig. Es wird alles gut gehen. Du wirst ihn bald schon wieder in den Arm nehmen können.“
Der Vorhof des Rathauses war überfüllter als am frühen Morgen der Markt, an dem jeder als Erstes das beste Produkt ergattern wollte. Hanami konnte noch nicht einmal das Podest sehen, auf dem die Offiziere standen. Sie und ihre Eltern standen ganz weit hinten, hinter all den weinenden und aufgebrachten Eltern, Ehefrauen und Freunden. Sie alle wollten wissen, wie es um ihre Lieben stand. Ihr Vater versuchte sie weiter nach vorne zu drängen, damit sie wenigstens die Rede der Offiziere hören konnte. Ihr Herz schlug panisch schnell gegen ihre Brust, als hoffte es zu entfliehen. Die letzten zwei Tage hatte sie mit mehreren Panikattacken zu kämpfen gehabt. In einem Moment glaubte sie ihren Eltern und freute sich über das Kriegsende und auf Ryujis Rückkehr. Und mit einem Wimpernschlag brach sie auf dem Boden zusammen und verfluchte alle und alles um sie herum. Sie verfluchte sich, dass sie Ryuji bestärkt hatte, als er mit seinen Freunden seinen Dienst angetreten und ihm die Sicherheit gegeben hatte, er müsse nie in den Außeneinsatz. Sie verfluchte Ryuji, dass er gegangen war und nicht an ihre gemeinsame Zukunft gedacht hatte. Sie verfluchte die Regierung für die allgemeine Militärpflicht der Männer und für den Krieg, den sie angezettelt hatte. Und sie verfluchte das Militär, dass sie ihn eingezogen hatten, kurz bevor er seine vier Jahre Wehrdienstpflicht abgeschlossen hatte.
Hanami atmete tief ein und wieder aus. Sie wollte sich nicht an die letzten Stunden der Qual erinnern. Sie musste positiv denken. Wenn Ryuji hier war, dann wollte sie ihm nicht mit einem verweinten Gesicht willkommen heißen. Er war bestimmt hier, wartete im Rathaus mit den anderen Soldaten ins Sonnenlicht hervor zu treten und zu zeigen, dass es ihm gut ging. Hanami schaffte es dennoch nicht den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. Das Gefühl von Unheil wich nicht von ihr und sie zwickte sich unruhig in die Finger.
Die Ansprache war schwer unter den Klagerufen der Anderen zu verstehen.
„Wo ist mein Mann, ihr Schweine?!“ und „Was ist mit meinem Yoshiki geschehen?“ wurde direkt in Hanamis Ohr geschrien und es bereitete ihr Kopfschmerzen. Es waren die gleichen Gedanken, die sie auch hegte. Wieso habt ihr ihn mir weggenommen? Wieso musste er für euch leiden, für nicht einmal einen richtigen Sieg? Dieser Fragen fanden kein Gehör, denn Hanami sprach sie nicht aus, denn sie wollte erst einmal eine Antwort auf die wichtigste Frage, die es gab. War Ryuji am Leben? Sie zwängte sich zwischen den Leibern hindurch, schubste die eine oder andere Frau aus dem Weg. Niemand achtete darauf. Sie alle hatten nur das Podest im Blick und schrien ihre Fragen und Anklagen zu den uniformierten Männern.
„…-ut uns leid, dass die Überlebenden noch nicht zurückgekehrt sind, doch befinden sie sich noch nicht im Inland. Sie werden dennoch im Laufe des Monats eingeflogen.“ Sie würde Ryuji heute nicht wiedersehen können, auch wenn er wohlauf war. Hanamis Lider flackerten und sie unterdrückte den Drang in den Chor der Schreie einzutauchen.
„Jedenfalls verkünde ich nun die unter meinem Kommando stehenden Einheiten, die mit unserem größten Bedauern gefallen sind. Einheit 2: Yamada Tori, Tsugiwara Shota… “, sagte der Offizier, der am Mikrofon stand und laut von einem Papier vorlas. Der Mann las die Todesliste nahezu gleichgültig vor, als ginge es nicht um Menschenleben. Er rasselte die Einheiten nur wie unbedeutende Zahlen und die Namen wie zusammengewürfelte Buchstaben runter ohne sich einmal zu verhaspeln oder ein Krächzen im Hals zu unterdrücken. Die Liste war lang. So viele Soldaten waren gefallen. Hanami traute ihren Ohren nicht. Bei jeder Erwähnung verstummten ein Teil der Hörer und sahen den Offizier mit leeren Blicken an. Andere wiederum gerieten mehr in Rage und versuchten ihre Schuhe dem Offizier gegen den Kopf zu werfen. Nicht nur die Angst um Ryuji, auch der Schmerz derjenigen, die ihren Verlust bestätigt bekommen haben, zerriss Hanami das Herz. Doch war es nicht Ryujis Offizier, so brauchte sie sich nicht zu fürchten, dass Ryujis Name aufgerufen wurde.. Dennoch waren ihre Nerven zum Reißen gespannt mit jeder weiteren Sekunde der Ungewissheit.
Die Frau neben ihr brach zusammen und begann bitterlich an zu weinen, als der Offizier auch ihren Mann für tot erklärte. Ihr Sohn schirmte sie schützend von der sich bewegenden Menge ab, damit sie nicht überrannt wurde. Hanami griff der Frau unter die Arme, um sie wieder hochzuziehen.
„Mein Mann… Mein Mann ist…“, weinte die Frau und umklammerte Hanami als sei sie ein Rettungsring im offenen Meer.
„Das tut mir leid“, hätte Hanami der Frau gerne tröstend zugeflüstert, doch brachte sie es nicht über sich einen Gedanken an etwas anderes als Ryuji zu verschwenden. Doch hielt Hanami sie den Rest der Zeit fest, in der Befürchtung, sie könne erneut zusammenbrechen. Es dauerte endlos viele Stunden, die Hanami qualvoll zur Geduld zwangen. Sie verspürte den Drang, die Schar der Menschen wegzustoßen, um auf das Podest zu springen, nur um den Offizieren ihre sehnlichst erwartete Antwort aus dem Leib zu prügeln. Doch wusste sie, dass sie vom Kongress abgeführt und verhaftet werden würde, ehe sie diese erhielt. Die verschiedenen Offiziere nannten die Gefallenen und Hanami blieb nichts anderes übrig, als tatenlos auf den vorletzten Offizier zu warten, dessen Gesicht einer Maske glich. Mit starrem Blick sah er in die Masse an Hinterbliebenen, als er sich an das Mikrofon stellte. Viele, die um ihre Lieben Bescheid wussten, hatten den Platz verlassen, um den Schock Zuhause auszusetzen. Sie würden die Tage vom Militär die Asche und ein Gutschreiben zugeschickt bekommen, ein sporadischer Versuch den Schmerz zu lindern. Hanami stand ganz nah an dem Podest, sodass sie das morsche Holz in der Luft schmecken konnte. Ihre Muskeln spannten sich unter ihrer Haut an und sie wagte es nicht mehr zu Atmen.
Seine Liste war kürzer als die der Anderen, doch war er betroffener. Die Stimme zitterte bei jeden Namen und ob es Schweiß oder eine Träne war, die auf das Papier tropfte, blieb ungeklärt.
„… und Tanaka Yuuta verloren ihr Leben im Namen des Vaterlandes.“ Einen Augenblick lang reagierte Hanami nicht. Sie sah dem Mann, dem sie zu Füßen stand still an, ehe das Gehörte ihr Gehirn erreichte. In Zeitlupe umklammerte sie das morsche Holz und bohrte ihre Finger hinein. Sie konnte es nicht glauben. Die Anspannung, die sie die letzten Tage anhaltend verspürt hatte, verließ ihren Körper und sie lachte erleichtert auf. Ihr Lachen unter all den Klageschreien war skurril und erntete entsetzte und hasserfüllte Blicke. Sie wollte tausend Luftsprünge machen, auf das Podest steigen und den Offizier küssen. Die Flut von Glücksgefühlen übermannte sie und ihr wurde schwindelig. Sie lehnte sich an ihren Vater, der sie sofort in einem festen Griff hielt.
„Zudem“, sprach der Offizier und Hanamis Herz stockte. Da war das Gefühl des Unheils wieder und es grinste sie böse an.
„Verloren weitere tapfere Soldaten ihr Leben, bei denen es uns nicht mächtig war, sie zu bergen. Doch gelten sie nicht als vermisst, da ihr Tod von Augenzeugen bestätigt wurden. Es handelt sich um die komplette Einheit 145 mit den Soldaten Aino Yuuto, Date Toji, Fushida Kaga, Kuna Ryuji und Mikumo Koichi sowie die Soldaten Watanabe Daichi und Watanabe Akito der Einheit 151. Ich bekunde hier mein äußerstes Bedauern an Alle, die heute einen geliebten Menschen verloren haben.“
Kopfschüttelnd wandte sich Hanami zu ihrem Vater, dessen Gesicht kreidebleich war. Auch ihre Mutter versteckte ihr Gesicht hinter einem Taschentuch. Ihr Vater ergriff die Hand seiner Tochter und zog sie von dem Podest weg.
„Wir gehen“, sagte er bestimmt mit hohler Stimme. Hanamis Lächeln glich der einer Toten, starr und emotionslos:
„Papa? Das ist nicht wahr, oder? Ryuji kommt doch wieder? Er hat nicht Ryuji gesagt. Es war Ryujin, ich habe mich nur verhört! Papa?“
„Liebling, geht es dir wirklich gut“, fragte ihr Vater besorgt, als Hanami eine Woche später am Esstisch saß. Sie starrte in ihre Reisschale.
„Wir schreiben nächsten Monat eine Klausur. Ich muss mich noch besser vorbereiten. Ich kann es mir nicht leisten ein Semester zu wiederholen. Ich gehe heute in die Bibliothek und lerne mit Mitsuki.“ Ihr Vater warf seiner Frau einen traurigen Blick zu.
„Das war eigentlich nicht, was ich-“ Aber Hanami stand schon auf und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
„Ich bin heute Abend wieder da, ihr braucht aber nicht auf mich zu warten.“ Als sie das Haus verlassen hatte, brach ihr Vater in seinem Stuhl zusammen. Er warf seine Arme über den Kopf und presste die Stirn gegen die Tischkante.
„Schatz, sie braucht ihre Zeit es zu verarbeiten. Und wenn sie soweit ist, dann sind wir hier für sie da um ihr Halt zu geben“, sagte seine Frau und kraulte ihm den Nacken,
„Ich weiß, es ist schwer sie so zu sehen, aber wir können jetzt nur warten.“
Am Abend dachte Hanami nicht einmal an Schlaf. Sie wanderte wieder im Haus umher, ging die Treppen hoch und runter und stand schlussendlich vor der Abstellkammer. Sie hatte sich die ganze Woche davon abgehalten erneut schwach zu werden, doch sie war an ihr Limit gestoßen. Sie musste seine Stimme noch einmal hören. Im Nu saß sie auf dem Koffer und kramte nach der Kamera. Sie umfasste das kleine Gerät wie ein Seil, dass zur Rettung einen Abgrund heruntergelassen wurde. Sie musste sich nur das Video ansehen, um aus diesem Tief herauszukommen. Sie schaltete die Kamera an und Ryuji auf dem Stuhl erschien auf dem Bildschirm. Hanami lächelte, als sie es abspielte und er sich auf seinen Schoß stützte.
„Ich habe heute die Nachricht erhalten. Wir werden eingezogen. Toji, Kaga, Yuuto und die anderen warten unten schon auf mich, aber ich wollte dir noch eine Nachricht hinterlassen. Das ist das Mindeste, was du verdienst. Ich weiß nicht, ob ich wieder zurückkehren werde. Und ich bitte dich hiermit auch nicht, auf mich zu warten. Ich möchte, dass du glücklich wirst. Ich möchte, dass du mich los-“ Der Bildschirm wurde schwarz und die Batterie leuchtete ein letztes Mal rot auf, ehe sie vollkommen erlosch. Regungslos hielt sie die Kamera in den Händen und sah sich in der Spiegelung weinen.
„Was? Nein, nein! Das darf nicht sein, nein!“ Ihre Schrei durchdrang alle Türen und sie schüttelte die Kamera, als würde diese nur kurz schlapp machen. Ihr Vater riss die Tür auf und Hanami zeigte ihm mit Tränen überströmten Gesicht die Kamera.
„Er ist weg, Papa! Und er kommt nicht wieder. Ich… Ich habe ihn verloren.“ Sie fiel ihm in die Arme und er sank mit ihr gemeinsam zu Boden. Sofort war sein Hemd von Tränen genässt und Hanami krallte sich hinein. Ryuji hatte sie endgültig verlassen.
„Und wir bekommen noch nicht einmal seinen Leichnam! Wir haben gar nichts, was an ihn erinnert. Er ist irgendwo auf dem Schlachtfeld verschollen.“
„Liebling, solange du an ihn denkst, wird er immer am Leben sein.“
Ihr Vater konnte nichts anderes tun, als seiner Tochter die ganze Nacht das Haar zu streicheln und all ihre Schreie entgegenzunehmen. Es war ein Schmerz, den er nicht lindern konnte, doch konnte er ihr beistehen.
Die überlebten Soldaten kehrten in die Stadt zurück. Doch auch wenn sie die Hölle überstanden hatten, waren sie ihr Leben lang mit den Erinnerungen gebrandmarkt. Sie würden nachts aus Alpträumen schweißgebadet erwachen, sich bei lauten Hupen oder Knallen zitternd auf den Boden werfen, aus Angst eine Granate sei hochgejagt worden. Ihre Körper würden sie jeden Tag an die Kämpfe erinnern. Bandagiert traten sie aus den Wägen, manche vermissten einen Arm oder ein Bein. Nur Wenige hatten das Glück äußerlich unversehrt heimzukehren.
Hanami hatte ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Ihr kam alles sinnlos vor. Die zwei Jahre, die sie auf ihn gewartet hatte, vergeblich. Wann war er gestorben? Zu Beginn des Krieges und sie hatte es nicht erfahren? Oder war es ein paar Tage vor dem Waffenstillstand, als er starb? Sie wusste noch nicht einmal wie. Erschossen, als Geisel hingerichtet oder von einer Miene überrascht? Hatte jemand überhaupt gesehen, wie er gestorben war oder musste er allein die Welt verabschieden? Sie konnte nicht mehr weinen. Es war, als wäre sie ausgetrocknet. Ihr Gesicht war ganz verklebt, da sie keine Kraft mehr gehabt hatte, die Tränen wegzuwischen bevor sie versiegt waren. Ihr Vater öffnete leicht die Tür:
„Liebling? Du hast Besuch.“ Sie reagierte nicht auf ihn.
„Mitsuki, du kannst reingehen. Ich denke, sie braucht dich jetzt am meisten“, sagte er und ihre beste Freundin betrat das abgedunkelte Zimmer. Hanami hatte die Fenster mit schwarzem Papier beklebt, damit kein Sonnenlicht rein scheinen konnte. Sie konnte das hämische Lachen der fröhlichen Strahlen nicht aushalten. Sie lag kraftlos im Bett und starrte die Wand an, ohne auf Mitsuki zu achten.
„Süße“, vorsichtig setzte sich Mitsuki zu ihr aufs Bett und legte eine Hand auf Hanamis Schulter. Sie streichelte sie vorsichtig wie ein verletztes Tier, welches in jedem Moment die scharfen Krallen ausfahren konnte.
„Ich weiß es ist schwer, unglaublich schwer weiterzumachen. Aber wir alle machen uns Sorgen um dich. Du hast alle von dir gestoßen und isst seit Tagen nichts mehr. Ryuji hätte das nicht gewollt. Er wollte, dass du dich aufraffst und weiterlebst. Du wirst glücklich werden, das verspreche ich. Anders, als du es erwartete hattest, aber glücklich. Also komm, geh duschen, zieh dir was Frisches an und dann gehen wir gemeinsam etwas essen, okay? Was hältst du von Ramen?“ Ihr Vater war wieder in sein Arbeitszimmer gegangen. Er wollte ihnen die Privatsphäre lassen, die sie jetzt brauchten.
„Lass mich in Frieden“, sagte Hanami, doch ihr entrangen kaum die Worte. Ihr Hals war trocken und es fiel ihr schwer zu sprechen.
„Das werde ich nicht! Wir haben dir so viele Wochen gegeben, um dich selbst wieder aufzuraffen, aber du hast es nicht geschafft. Es ist in Ordnung, denn niemand kann solche schweren Bürden allein tragen, doch jetzt liegt es an deiner Familie und deinen Freunden dir da raus zu helfen. Wir können nicht weiter tatenlos dabei zusehen, wie du dich selbst zerstörst. Du stehst jetzt auf, selbst wenn ich dich eigenhändig in die Dusche zerren muss.“
Sie zog Hanami die Decke weg, die Hanami kraftlos festhielt und drängte sie zum Aufstehen. Mitsuki umgriff Hanamis Taille und merkte, wieviel Gewicht ihre Freundin in der letzten Zeit verloren hatte. Hanami war schon immer eine schlanke, definierte Frau gewesen, doch jetzt lief Mitsuki der Schauder über den Rücken. Die Rippen, die sich mit jedem Atemzug gegen ihre Hand drückten, waren nur noch mit einer feinen Hautschicht überzogen.
„Ich hasse dich“, krächzte Hanami schwach, doch Mitsuki zuckte nur mit den Schultern,
„Dann tu es für den Rest deines Lebens. Solange du weiterlebst, soll es mir recht sein!“ Sie stützte Hanami zum Badezimmer und ließ sie aufs Klo nieder. Dann knöpfte sie ihr das Oberteil auf und zog ihre Schlafhose runter.
„Ich hasse dich“, sagte Hanami erneut. Aber Mitsuki hob sie in die Badewanne und ließ lauwarmes Wasser auf sie herabrieseln. Sie shampoonierte das lange Haar und säuberte die Haut mit einem großen Schwamm. Hanami ließ alles über sich ergehen und starrte nur leer gegen die Azur gefärbten Wandfliesen.
„Als wir noch klein waren“, begann Mitsuki, während sie das Shampoo aus wusch, „sind wir von zuhause weggelaufen und wollten die Welt bereisen. Wir hatten unser Erspartes mitgenommen und sind ohne Proviant oder Wechselkleidung zum Bahnhof gerannt. Das Geld reichte gerade so für zwei Tickets in die Nachbarstadt. Wir sind in den Zug gestiegen und fuhren weg. Ohne uns auch nur eine Sekunde Sorgen zu machen was geschehen könnte. Wir hatten uns nicht gefürchtet alles hinter uns zulassen, weil wir uns hatten. Hanami, wir hatten immer einander. Egal, wie schwierig die Sache war, der wir uns entgegenstellen mussten. Du halfst mir in meinen schlimmen Phasen und jetzt lass mich dir helfen. Wir sind doch Freunde.“ Es war das erste Mal seit Monaten, dass Hanami ihrer besten Freundin in die Augen sah. Sie hatte schon vergessen, wie sie aussah.
„Mitsuki…“ Mitsuki zog Hanami in eine Umarmung. Ihr Hemd wurde nass vom Shampoo und Wasser, aber ungeachtet dessen war sie glücklich, ihre Freundin wieder in die Arme schließen zu können.
Hanami kam von einem gemeinsamen Tag mit Mitsuki wieder. Sie war erschöpft. Es war lange her, dass sie so viel an einem Tag getan hatte. Doch auch, wenn die letzten Tage mit Mitsuki schön waren, fühlte sie sich leer. Es war, als würde sie sich von Ryuji entfernen und dieser Gedanke fraß all die schönen Momente auf, die sie erlebt hatte. Mitsuki strengte sich unglaublich an, Hanami wieder in den Alltag zu integrieren oder zum Lachen zu bringen, doch gelang es ihr kaum.
Sie stieß das Gartentor auf und betrat ihr Grundstück. Die schönsten Blumen sprossen über den ganzen Garten. Rosen, Lilien, Veilchen und viele mehr. Ihre Mutter liebte Blumen über alles. Manchmal vielleicht sogar mehr als ihre eigene Tochter. Hanami hockte sich neben eine wunderschön tiefrote Rose und berührte dessen Dornen. Sie waren scharf und picksten ihr in die Fingerkuppe.
„Vorsicht, nicht, dass du dich noch stichst.“
Sie hatte die Stimme so oft auf Dauerschleife gehört, dass sie unter Millionen hätte raushören können. Aber es war ein Traum, oder? Der Rosendorn war vergiftet und sie ist in einen Schlaf gefallen. Oder auch direkt gestorben. Aber das machte nichts, es wirkte unglaublich real. Sie fuhr zum Gartentor herum und sah ihn ungläubig an. Im Krieg hatte man seine Haare kurz geschoren, doch er ließ es sich wieder lang wachsen. Es hatte fast wieder die Länge wie vor seinem Dienstantritt erreicht. Die Militäruniform sah bis auf die kleinste Falte genauso aus wie auf dem Video. Sie sagte nichts, sondern sah ihn nur an. Er wusste nicht was er tun sollte. Er räusperte sich und schaffte es kaum ihren Blick standzuhalten.
„Ich weiß nicht, ob ich hier sein sollte. Immerhin bat ich dich mich zu vergessen. Aber ich konnte mich nicht weiter selbst belügen. Ich habe inständig gehofft, dass du meinem Wunsch nicht nachkommst, auch wenn es selbstsüchtig ist.“
„Du bist tot“, sagte Hanami hohl und richtete sich auf, blickte ihn weiter an, als sei er eine Erscheinung ihrer Fantasie. Er zog seine Mütze von seinem Kopf und lächelte sie hilflos an. Es war als hatte die Zeit im Krieg ihn vergessen lassen, wie man lächelte. Es wirkte starr und leblos.
„Wie? Ich habe es aus dem Mund des Offiziers gehört, deinen Namen. Wie also kannst du hier stehen?“
Hanami legte ihre Hand auf seine Wange und ihr Atem hielt an, als sie den Widerstand spürte. Er war wahrhaftig hier, oder? Sie wusste nicht, ob sie ihrer Hand trauen konnte. Ihre Mundwinkel zuckten und sie blickte ihn in die dunklen Augen. Dann rann die erste Träne ihre Wange herunter, welche er schuldig wegwischte.
„Du bist wirklich hier? Du bist keine Erscheinung?“
Ryuji schüttelte den Kopf und wurde von Hanamis Umarmung überrannt. Er stolperte zurück und fiel auf seinen Rücken, während sich Hanamis Arme immer fester um ihnen schlangen. Ihr Ohr war gegen seine Brust gepresst, um seinen Herzschlag zu hören. Auch er umarmte sie und ihm flossen ebenfalls Tränen aus den Augen. Sein Körper bebte unter Hanami und er sagte mit brüchiger Stimme:
„Ich dachte wirklich, ich hätte alles verloren. Ich dachte, du hättest jemand Neues gefunden, jemand besseres. Der Gedanke, ohne dich nach dem Krieg weiterzuleben, hatte mir die Angst vor dem Kampf genommen. Und doch flehte ich jeden Tag, jede Sekunde, dass du warten würdest. Es tut mir leid, wie selbstsüchtig ich bin.“ Hanami stützte sich leicht von seiner Brust ab, und zog ihre Kette unter ihrer Bluse hervor:
„Ich war genauso selbstsüchtig wie du. Ich respektierte deinen Wunsch nicht und habe jeden Tag gehofft, dass du zurückkommen wirst und mir diesen Ring an den Finger steckst.“ Sie saßen beide auf den Boden, weinend und mit Dreck beschmutzt, als Ryuji den Ring von der Kette löste. Das Gefühl des Metalls, das über Hanamis Finger strich, war unbeschreiblich schön. Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass Hanami lachen konnte, wie sie es früher getan hatte.
Die Haustür schwang auf und ihre Mutter, mitgenommen von der Sorge um ihre Tochter stellte sich auf die Schwelle:
“Mit wem redest du, Hanami?”